MOTOR-EXCLUSIVE

Benjamin Bessinger/SP-X - 23. Dezember 2016, 10:28 Uhr SPECIALS

Panorama: Mit dem VW Beetle LSR über den El Mirage Dry Lake - Need For Speed

Geschwindigkeit ist relativ. Erst recht auf dem staubigen Grund eines ausgetrockneten Sees im Hinterland von Kalifornien. Denn bei den Speed Days von El Mirage wird selbst ein VW Beetle zum Rennwagen. Erst recht einer mit 600 PS!

Ron Main ist weit über 60 und hätte alles Recht der Welt, es ein bisschen ruhiger angehen zu lassen. Doch nichts liegt dem rüstigen Rentner so fern wie die Ruhe. Denn Main ist infiziert von einem Virus, der ihn immer wieder auf die ausgetrockneten Seen im Westen der USA zieht: Land Speed Racing heißt die Krankheit und kurieren kann man sie nur mit Geschwindigkeit, sagt der Mann mit der von Sonne, Sand und Salz gegerbten Haut. Deshalb ist er auch heute hier heraus nach El Mirage zwei Stunden nordöstlich von Los Angeles gekommen, um mit ein paar hundert anderen Verrückten auf einer staubigen Ebene von schier endloser Weite über eine meilenlange Gerade zu jagen wie sie es hier schon seit den dreißiger Jahren tun. ,,Das ist eine Sucht, und wenn sie dich einmal gepackt hat, wirst du sie nie wieder los", sagt der PS-Pensionär, bevor er sich wieder in seine über 1.000 PS starke Rennzigarre zwängt und einmal mehr auf Rekordjagd geht.
 
Von den Absperrungen für die Zuschauer aus betrachtet sind Männer wie Ron Main Freaks, die man wahlweise bedauern oder bewundern kann. Doch wer einmal selbst am Steuer eines Land Speed Racers sitzt, für den ist Main ein tollkühner Held, der nichts Anderes verdient als Respekt und Anerkennung.
 
Auf den ersten Blick mag so ein Rennen eine leichte Übung zu sein - schließlich geht es ja einfach nur gerade aus. Und anders als auf dem Drag Strip kommt es nicht einmal auf die Zeit an, es zählt allein die Geschwindigkeit. Aber festgezurrt in einem Rennwagen, drei Meter und wenige Sekunden vor dem Start sieht die Sache doch ein bisschen anders aus. Selbst ein VW Beetle kann da zur Mutprobe werden - erst recht, wenn er vorher ein paar Monate in der Werkstatt von Tom Habrzyk gewesen ist. Denn der aus Polen ausgewanderte Tempo-Junkie gehört zu den Koryphäen unter den Land Speed Racern und hat aus dem zahmen Käfer im Auftrag von VW eine kraftstrotzende Kanonenkugel gebaut: 600 PS machen den gelben Knubbel zum stärksten Käfer der Welt. Und seit er vor ein paar Wochen auf den Salzseen von Bonneville mit 205,122 mph oder umgerechnet 330,112 km/h gemessen wurde, ist er auch der schnellste.
 
Auf den ersten Blick sieht die Knutschkugel noch ganz friedlich aus. Die etwas weiter nach unten gezogene Frontschürze fällt kaum auf. Und die dünnen Rädchen mit den voll verkleideten Felgen könnte man noch als Styling-Sünde abtun. Nur die beiden Stoffwürfel am Heck sollten einen skeptisch machen, schließlich stecken da sie Bremsfallschirme drin.
 
Doch innen ist der Beetle ein Rennwagen reinsten Wassers. Dort, wo früher mal die Rückbank war, hat Tom ganz tief unten auf dem Boden eine Sitzschale hinein geschweißt, in der das Team den Fahrer fixiert wie in einem Schraubstock. Den Helm auf dem Kopf, Hans im Nacken, die Hosenträgergurte so stramm, dass man kaum atmen kann und die Handgelenke mit Bändern an den Gurt gefesselt, reicht die Bewegungsfreiheit gerade noch, um das weit nach vorn gerückte Lenkrad und das verlängerte Schaltgestänge zu erreichen, im Notfall den Feuerlöscher zu zünden und natürlich um die Hebel für die Fallschirme zu ziehen, die dem Spuk ein Ende machen.
 
Als wäre das nicht schon kuschelig genug, wird das Auto gar vollends zum Backofen, sobald man Zündung und Benzinpumpe anschaltet und den Startknopf drückt - selbst wenn neben dem Fahrer ein Tank mit Eiswasser thront, mit dem die Ladeluft um 20 Grad herunter gekühlt wird. Zusammen mit den beiden riesigen Turbos und ein paar ,,kleinen Modifikationen", für die Tom immerhin fünf Monate gebraucht hat, wird aus dem kreuzbraven 2,0-Liter-Motor des Serienmodells eine Höllenmaschine und statt bislang maximal 220 PS kommt der Beetle jetzt fast auf die dreifache Leistung. 600 PS und dazu noch 600 Nm, kein Wunder, dass über diesen Käfer hier keiner lacht.
 
Und selbst wenn, würde man es jetzt auch nicht mehr hören. Denn unter den Neugierigen Blicken von Männern wie Ron Main hat sich der Beetle mittlerweile unter die Hot Rods, die Stromlinien-Zigarren, die Naked Bikes und die voll verkleideten Highspeed-Motorräder gemischt und sich Meter für Meter an die Startlinie vorgearbeitet. Und als dann der Marshall die Strecke freigibt und die Kupplung mit dem Geräusch eines Hammerschlags zuschnappt, quietschen selbst auf dem Sand die Reifen und brennen eine schwarze Spur hinter die Startlinie, ein ohrenbetäubendes Brüllen lässt alles andere verstummen und eine dicke Wolke feinen Staubes legt sich über die Szenerie.
 
Dann beginnt ein Höllenritt, gegen den eine Runde auf Nordschleife zur Sonntagsfahrt wird. Eisern muss man am Lenkrad gegen das Schlingern auf dem plötzlich gar nicht mehr so festen und ebenen Dreck-Track kämpfen, die Gerade fühlt sich da schon ziemlich krumm an, was eben noch eine endlos breite Piste war, ist jetzt plötzlich ein schmaler Grat auf Messers Schneide und man ist so konzentriert, dass man erst im allerletzten Moment die flackernd roten Lichter sieht, mit denen sich kurz vor 8.000 Touren der Drehzahlbegrenzer ankündigt.
 
Klack, zweiter, klack, dritter, klack vierter Gang. Der Auspuff röhrt, der ganze Wagen dröhnt und der Beetle zieht eine Staubschleppe hinter sich, als sei gerade ein Sandsturm losgebrochen. Mit zentnerweise Ballast irgendwie am Boden gehalten, jagt der Käfer durch die Wüste, als hätte jemand auf ,,fast forward" gedrückt und noch nie haben sich die vier Sekunden von 0 auf 100 km/h so kurz angefühlt wie hier. Und da ist die Strecke noch nicht einmal zur Hälft geschafft. Umso erlösender ist der Moment, wenn sich aus dem sandigen Panorama die Ziellinie herausschält, man endlich wieder den Fuß vom Gas nehmen und sich in die Schirme fallen lassen kann, die der Raserei mit einem Rück ein jähes Ende machen.
 
Dann ist plötzlich alles still, die Zuschauer sind meilenweit weg und selbst vom leerlaufenden Motor hört man irgendwie nichts mehr. So schnell der Adrenalinspiegel gestiegen ist, so schnell fällt er ins Bodenlose und man sinkt im Sitz förmlich in sich zusammen. Doch die Ruhe währt nur wenige Sekunden. Denn sobald sich die letzten Sekunden in die Erinnerung schleichen und das Rennen vor dem geistigen Auge rückwärts noch einmal abläuft, zuckt es auch schon wieder im rechten Fuß und man versteht urplötzlich, warum Racing-Rentner Main so eindringlich vor der Sucht nach Speed gewarnt hat. ,,Ich habe es Dir doch gleich gesagt", hört man ihn noch rufen, während man schon wieder zurück an den Start will, nur um beim nächsten Mal noch schneller zu fahren. Und schneller. Und schneller. Und schneller.
 
Ron Main beobachtet die Szenerie mit einem wissenden Lächeln, mit einer Spur Mitleid und mit der Milde eines Helden, der nichts und niemandem mehr etwas beweisen muss. Und der vor allem nicht um seinen Ruhm zu fürchten braucht. Denn selbst wenn VW doch noch jemanden findet, der sich in diesem Beetle Vollgas traut und die theoretisch möglichen 400 Sachen knackt, kann er Main nicht gefährlich werden. Der Rekord seines ,,Speed Demon" als weltweit schnellstes Fahrzeug mit Hubkolbenmotor ist zwar schon viele Jahre alt, doch bis heute ungebrochen - bei über 700 km/h.

Dieser Artikel aus der Kategorie SPECIALS wurde von Benjamin Bessinger/SP-X am 23.12.2016, 10:28 Uhr veröffentlicht.