MOTOR-EXCLUSIVE

Benjamin Bessinger/SP-X - 19. Mai 2017, 14:26 Uhr SPECIALS

Panorama: Im Mercedes Concept EQ durch Berlin - Wo Morgen schon heute ist

Mehr Autos an der Ladesäule als auf dem normalen Parkplatz, in den Leitungen der Strom aus Solardächern, an jeder Ecke ein CarSharing-Mobil und zwischen den einzelnen Gebäuden pendelt ein autonomer Kleinbus - auf dem Euref-Campus in Berlin hat die Zukunft bereits begonnen. Selbst der Mercedes EQ passt hier ins Straßenbild - zumindest verübergehend.

Ein halbes Dutzend Nissan Leaf, zwei, drei Tesla und noch eine Handvoll Mitsubishi Outlander mit Plug-In-Hybrid - an den Ladesäulen auf dem Berliner Euref-Campus ist ordentlich was los. Doch sorgen um seinen Strom muss sich Jörg Weinhold nicht machen. Denn erstens zeigt sein Borddisplay noch eine Reichweite von über 400 Kilometern und zweitens ist an Deutschlands größter Elektro-Tankstelle auch für den Produktmanager der neuen Daimler-Marke EQ und seinen silbernen Mercedes noch ein Plätzchen frei.
 
Völlig unscheinbar, sauber, geruchsneutral und ohne angeschlossenen Supermarkt steht sie auf einem ehemaligen Industrie- und Kraftwerksgelände im Stadtteil Schöneberg, das sich heute als Symbol der Energiewende versteht und die Zukunft erlebbar machen will. Der Strom rund um den riesigen Gasometer kommt deshalb aus Solar- oder Windkraftanlagen und wird im Micro-Smart-Grid zwischengespeichert, in den alten Backstein-Gebäuden brüten junge Start-Ups an den smarten Geschäftsideen einer neuen Generation und auf den wenigen Straßen des Areals sieht es aus wie in den kühnsten Träumen von Tesla, Google & Co. Es gibt deutlich mehr Elektroautos als konventionelle Verbrenner, die meisten Fahrzeuge werden geshared, zwischen den Gebäuden pendelt ein führerloser Kleinbus aus dem 3D-Drucker und selbst die B-Klasse mit Brennstoffzelle wirkt hier wie ein Youngtimer. Von den wenigen althergebrachten Autos ganz zu schweigen: Wenn Daimler-Chef Dieter Zetsche sehen will, wo seine CASE-Strategie vom vernetzten, autonomen, geteilten und elektrischen Auto hinführt, dann muss er nur auf diesen Campus schauen.
 
Kein Wunder also, dass sich Mercedes ausgerechnet die gut fünf Hektar im Süden der Stadt für die Jungfernfahrt des EQ Concept ausgesucht hat. Schließlich steht der Silberling für genau jenen Umbruch, den Zetsche mit Case erreichen will. Der feudale Viersitzer, der wie eine Mischung aus GLC und CLS Shooting Brake daherkommt und sich mit seinem schwarzen Band vom Grill über Haube und Dach bis zum Heck auch gestalterisch am Smartphone orientiert, wird das erste ausschließlich um den Elektroantrieb herum entwickelte Mercedes-Modell und zudem der Grundstein für eine Marke in der Marke, mit der sich die Schwaben zur Mobilität einer neuen Zeit bekennen wollen. Nicht weniger als zehn EQ-Modelle hat Zetsche für die nächsten Jahre versprochen und hält es für durchaus realistisch, dass bald jeder fünf Mercedes dazu zählen wird.
 
Noch allerdings gibt es nur diesen einen und entsprechend vorsichtig sind Männer wie Produktmanager Weinhold damit unterwegs. In der Theorie soll die Studie mit zwei Elektromotoren auf 300 kW/408 PS und 700 Nm kommen, in weniger als fünf Sekunden von 0 auf 100 beschleunigen und ein Spitzentempo weit jenseits von 200 km/h erreichen. Außerdem versprechen die Entwickler bei 70 kWh Akkukapazität eine Reichweite von über 500 Kilometern.
 
In der Praxis allerdings schafft das Schaustück bislang kaum mehr als Schritttempo und knirscht und knarzt dabei so sehr, dass der Fahrer vor jeder Bodenwelle und jedem Gullydeckel noch ein bisschen langsamer wird. Kein Wunder also, dass es die Schwaben nur mit Samthandschuhen anfassen und das Pedal mit dem leuchtend blauen Plus nur mit den Zehenspitzen berühren.
 
Während der Antrieb deshalb bislang wenig Aussagekraft hat, lohnt sich ein Blick aufs Ambiente dagegen umso mehr. ,,Denn da beschreiten wir für Mercedes jede Menge Neuland", sagt Designerin Vera Schmidt beim Blick in den hellen und freundlichen Digital-Kokon. Weil sie bei EQ offenere, progressivere und experimentierfreudigere Kunden erwarten, haben sie sich bei den Autos auch mehr Freiheiten genommen und ein paar alte Traditionen über Bord geworden. Zwar bleibt die Sitzverstellung in den Türtafeln, weil die zu Mercedes gehört wie der Stern auf der Haube. Doch sonst ist nichts mehr wie es einmal war: Das Cinemascope-Cockpit besteht jetzt aus einem einzigen Bildschirm, auf dem man sich die Anzeigen freier denn je konfigurieren kann. Dabei werden die Instrumente immer kleiner eingeblendet und machen Platz für neue HD-Karten in fast schon holgrafischer Qualität. Die sehen nicht nur besser aus als je zuvor, sind aktueller und enthalten mehr Details, man kann daraus selbst als Mitfahrer viel mehr Informationen ziehen. Denn als Datenbasis dient die in Echtzeit gepflegte Online-Karte Here, die zu jedem Punkt auf der Welt mehr Wissenswertes sammeln will als Wikipedia. Die Türen öffnet man mit Sensorfeldern, Musik, Ambiente und Klima regelt man mit einem Fingerzeug auf dem gebogenen Touchscreen zwischen den Sitzen und alle anderen Einstellungen nimmt man mit den beiden kleinen Touchpads am Lenkrad vor.
 
Während für die Eingabe die Berührung das Maß der Dinge ist, nutzt Mercedes als Ausgabemedium mehr denn je Beleuchtung. Zu den in Echtzeit und HD-Qualität erstellten 3D-Grafiken auf dem Widescreen-Display hinter dem Lenkrad und den Bildschirmen in den Rücklehnen der Vordersitze gibt es deshalb ein umlaufendes Lichtband unter der Fensterkante und LED-Punkte in den perforierten Türkonsolen, die subtile Botschaften etwa zum Fahrstil oder zum Ladezustand des Akkus übermitteln können.
 
,,Und nichts davon ist technisch so weit entfernt, dass es im EQ nicht in Serie gehen könnte", sagt Designerin Schmidt. Ganz so weit ist es allerdings noch nicht. Denn während die Zukunft auf dem Campus bereits Realität ist, ist sie in der Studie nur eine Simulation und statt Schöneberg flimmern deshalb Szenen aus San Francisco über den Bildschirm. Doch mittlerweile finden Weinhold, Schmidt und ihre Kollegen den Weg durch das Schaufenster nach Übermorgen Auch ohne die Hilfe von Here.
 
Außerdem ist die Zeitreise in Berlin für den Produktmanager und seinen Hoffnungsträger nach einer knappen Woche ohnehin schon wieder vorbei. Während die Zukunft in Schöneberg munter weiter geht, muss sie bei Mercedes noch zwei Jahre warten. Denn vor 2019 wird der EQ C nicht auf den Markt kommen und den Rückweg nach Stuttgart macht er nicht auf eigener Achse - sondern im Laderaum eines Lastwagens.

Dieser Artikel aus der Kategorie SPECIALS wurde von Benjamin Bessinger/SP-X am 19.05.2017, 14:26 Uhr veröffentlicht.