MOTOR-EXCLUSIVE

Jutta Bernhard - 11. Mai 2018, 08:55 Uhr OLDTIMER

Die mid-Zeitreise: einst und jetzt - im Kraftfahrzeug

Am 12. Mai 1958 berichtete der Motor-Informations-Dienst (mid) im 8. Jahrgang über Kraftfahrzeuge von einst und jetzt. 60 Jahre später ist vieles immer noch aktuell.


Am 12. Mai 1958 berichtete der Motor-Informations-Dienst (mid) im 8. Jahrgang über Kraftfahrzeuge von einst und jetzt. 60 Jahre später ist vieles immer noch aktuell.

Wenn alle fahrbaren Kraftfahrzeuge gleichzeitig in Bewegung wären, würde sich auf den Stadt- und Landstraßen und Autobahnen alle 80 Meter ein Kraftfahrzeug bewegen - wollen, aber nicht können, weil dem das totale Verkehrschaos entgegenstehen würde. Zum Glück ist nicht zu befürchten (oder zu erhoffen), dass alle vorhandenen Kraftfahrzeuge in Stadt und Land gleichzeitig ihre Parkplätze, Garagen und Laternen verlassen und sich auf die unstete Wanderschaft begeben, damit auch der letzte Verkehrsteilnehmer teilhaben kann an der unweigerlich eintretenden perfektionierten Verkehrskatastrophe.

An einem schönen Sommertag des Jahres 1900 hielt ein Motorvehikel in einer kleinen Stadt vor der Drogerie des Herrn Friedrich-Ferdinand Kümmerling. Der Automobilist, angetan mit einem hochgeschlossenen, bis auf die Fußspitzen herabreichenden gelben, ölbespritzten Staubmantel, erschien. An den Händen trug er dunkelweiße Zwirnhandschuhe, auf dem Kopf - zum Genick verwegen heruntergezogen - eine dunkelweiße Segeltuchmütze und vor den Augen eine gewaltige Staubbrille mit dicken runden Gläsern. Hinter ihm keuchte Herr Friedrich-Ferdinand Kümmerling höchstpersönlich mit einer großen Gasflasche im Arm; "Benzin" stand darauf. Die Kinder kannten dieses Benzin. Hier und da stand ein kleines Fläschchen davon im Haushalt als Fleckenwasser herum. Aber ein Wunder: Herr Kümmerling goss vorsichtig den Inhalt der gewichtigen Flasche in den Motorwagen hinein. Der Herr mit der großen Brille drehte einige Male fauchend und schwitzend vorn mit einer Kurbel. Es knallte ein paar mal, und dann lief tickernd und bullernd der Motor - es war ein Wunder, ein wirkliches Wunder! Denn der Herr setzte sich stolz in den Wagen, drückte ein paar mal auf den Gummiball der Hupe so dass die Menge entsetzt zur Seite stob und fuhr langsam davon.

Dieses motorische Vehikel, Automobil genannt, war eines der 3.211 Kraftfahrzeuge, die damals, anno 1900, immerhin schon 13 Jahre nach dem Bau der ersten Benz- und Daimlerwagen in Europa liefen. Ach, liefen ?.. Sie standen mehr, als sie liefen, und wenn sie liefen, machten sie die Pferde auf den Straßen scheu und hüllten die fluchenden, staunenden und hustenden Bürger in dicke Staubwolken ein. Die Straßen um die Jahrhundertwende - muss man wissen - waren damals auch nicht viel besser als heute. Im Gegenteil. Immerhin, Ihr Lieben, bedenket: 3.211 Kraftfahrzeuge in ganz Europa - 7.255 in der ganzen Welt, fast ausschließlich in Deutschland, Frankreich, England und Nordamerika!

Aber fünf Jahre später, im Jahre 1905 wurde es ernst, bitter ernst. Zeichnete sich etwa schon eine drohende Verkehrskalamität ab? Oh nein, viel schlimmer, noch viel schlimmer! Die Autosteuer wurde in Deutschland und bald auch in anderen europäischen Ländern eingeführt. Sie wirkte, wie eine Steuer eben zu wirken pflegt: Belebend auf den Staatssäckel und zuverlässig wie die Öldruckbremse (die es damals noch gar nicht gab) auf die technische Entwicklung des jüngsten Verkehrskindes, Automobil genannt. Langsam, aber sicher von ihrer hohen Aufgabe überzeugt, begannen sich die Behörden, Legislative und Exekutive, auf dieses tuckernde und rumpelnde Kraftfahrzeug einzustellen - mehr böse als wohlmeinend und meist verständnislos. Wer die Verkehrsordnungen aus jener Zeit liest und über den vielfachen Unsinn, der darin verzapft wurde, lächelt oder gar lacht, sollte sich lieber darüber wundern, das sich, trotz aller obrigkeitlichen Schikanen, das Kraftfahrzeug doch durchgesetzt hat. Seinem klopfenden Motorherzen wurde die Liebe zu den Menschen nicht gerade leichtgemacht. Aber hat sich etwa diese Einstellung heute viel gebessert?

Dabei sollte das eigentlich der Fall sein. Gegen das Kraftfahrzeug als zu melkende Kuh sind alle zu melkenden Kühe wahrhafte Waisenknaben - Verzeihung - Waisenmädchen! Denn: 10 Prozent des Volkseinkommens in Europa werden allein von der Kraftfahrzeug- und Kraftverkehrswirtschaft aufgebracht. Und: Rund 10 Prozent des Gesamt-Exports industrieller Fertigwaren nimmt die Kraftfahrzeugindustrie in Anspruch. Schließlich: Womit wollten sich wohl die vielen tausend Beamten und Angestellten sonst beschäftigen, die der Behördenapparat für die Kraftverkehrswirtschaft abstellt?

Dieser Artikel aus der Kategorie OLDTIMER wurde von Jutta Bernhard am 11.05.2018, 08:55 Uhr veröffentlicht.