MOTOR-EXCLUSIVE

1060 Jahre Volvo Amazon P220 Kombi - Eine Frage der Egalität
Erfunden hat Volvo den Kombi nicht, aber die Schweden haben ihn mit dem vom Nutzfahrzeug-Image befreit Foto: Volvo
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Wolfram Nickel/SP-X - 3. Januar 2022, 13:09 Uhr NEWS

60 Jahre Volvo Amazon P220 Kombi - Eine Frage der Egalität

Volvo und Kombi, das ist für viele Familien und Freizeitsportler ein Synonym, keine andere Marke konnte das Kombi-Heck fürs große Gepäck genialer inszenieren und sogar für den Motorsport fit machen. Erfunden hat Volvo dieses Fahrzeugkonzept nicht, aber die Schweden haben es 1962 mit dem legendären Amazon vom Nutzfahrzeug-Image befreit  

Können Autos ihre Käufer diskriminieren? Tatsächlich beschäftigten sich die auf soziale Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen bedachten Schweden vor 60 Jahren ernsthaft mit dieser Frage. Familien, die damals einen der wenigen Kombi-Pioniere kauften, wie etwa den schon 1953 eingeführten Volvo Duett, erwarben damit ein Fahrzeug mit dem Image des rustikalen Nutzis für Handel und Handwerk. Diese Benachteiligung darf nicht länger sein, sagten sich die Volvo-Produktstrategen. Warum gab es keinen Kombi, der in Komfort und Sicherheit einer Limousine entsprach und sich von dieser praktisch nur durch das Plus der Ladeluke am Heck unterschied? Mit dem Anfang 1962 vorgestellten Volvo Amazon P220 kamen die Skandinavier dieser Vision der Gleichberechtigung von Limousine und Kombi erstmals sehr nahe. Bis zur B-Säule war der auf dem Automobilsalon Stockholm enthüllte Volvo P220 identisch mit der viertürigen Amazon Limousine, die trotz ihres damals bereits beachtlichen Alters von fünf Jahren noch immer weltweit als nordische Schönheit gefeiert wurde. Hinter der B-Säule des Amazon P220 wurden in das Dach dezente Verstärkungen integriert und das Kombiheck zeichnete sich durch großzügige Verglasungen und gleich zwei Heckklappen aus. Unter der Motorhaube dieses weiterhin auch für Firmen, aber vor allem für Familien und Freizeit gedachten Vielseitigkeitskünstlers arbeiteten kräftige Vierzylinder, die aus dem ikonischen Sportcoupé P1800 S adaptiert wurden: Ein Konzept, das den Amazon P220 mit Kultstatus auflud und bis 1969 attraktiv hielt, ehe der Volvo 145 übernahm.

Egalität mit der Limousine demonstrierte Volvo übrigens auch bei der Namensgebung der Amazon-Kombivariante: Offiziell fand sich kein Kombi-Schriftzug am Modell mit der doppelten Heckklappe. Allein in der Werbung war anfangs erläuternd vom schicken ,,Herrgårdsvagn" (deutsch: Herrenhof-Wagen) die Rede. Dazu trug bei, dass die untere der beiden Ladeluken abklappbar war und so wie bei extravaganten Shootingbrakes als praktischer Picknicktisch genutzt werden konnte - vor allem aber war dies im Alltag nützlich, um extrem lange Gegenstände zu transportieren, die nicht komplett ins variable Gepäckabteil passten. Im Raumangebot konnte sich der ladelustige Volvo Amazon ohnehin mit den Größten messen, so fasste sein mit Textilien fein ausgekleidetes Gepäckabteil (bei den meisten Kombis dominierten dort Blechflächen) 1.850 Liter an Reisekoffern oder Freizeitausrüstung. Eine Ladung, die dank verstärkter Fondfederung immerhin 490 Kilogramm schwer sein durfte. Für einen lediglich 4,49 Meter langen und nur 1.190 Kilogramm wiegenden viertürigen Kombi respektable Werte.

Wer waren die Wettbewerber dieses Volvo? Zunächst einmal die zahlreichen Station Wagons fast aller US-Marken, die Volvo-Chefdesigner Jan Wilsgaard sogar veranlasst hatten, den Amazon P220 in experimentellen Entwürfen mit kleinen Heckflossen und klobigeren Konturen zu zeichnen. Schließlich sollte der Amazon in Nordamerika seine größten Erfolge einfahren, zumal Volvo dort 1963 ein erstes Montagewerk eröffnete. In Europa waren es dagegen die französischen Citroen ID 19 und Peugeot 404 Break, auf die geblickt wurde, dazu der Fiat 1800 Familiare und die anfangs nur zweitürigen Ford Taunus 17 M Turnier und Opel Rekord Caravan. Letztere waren 40 Prozent billiger als der Volvo und deshalb sogar in Schweden populär. Mit 12.950 Mark für die dank Zweifach-Vergaser 59 kW/80 PS starke und rund 155 km/h flotte Spitzenversion Volvo Amazon P222 war der Göteborger Kombi teurer eingepreist als fast alle Konkurrenten und ähnlich kostspielig wie die Sechszylinder-Prestige-Limousine Mercedes-Benz 220 S.

Andererseits hatte die Amazone unter den Kombis ihren Konkurrenten auch eine ganze Reihe an Attributen voraus, die den Kaufpreis zumindest teilweise kompensierten: Hohe Zuverlässigkeit bei geringen Unterhaltskosten, sportive Fahrleistungen und - typisch Volvo - neuartige Sicherheitstechniken. Nicht zu vergessen die zeitlos elegante Form, die keine Mode mitmachen musste. Während der Bauzeit des Amazon P220 wechselte etwa der Opel Rekord gleich drei Mal sein Kleid und auch der Ford Taunus 17 M Turnier zeigte sich in vier Design-Generationen. Die robuste Konstruktion des nordischen Kombis spiegelte sich in schwedischen Statistiken, die dem Volvo das Doppelte der üblichen Pkw-Lebenserwartung bescheinigten, aber auch im Lobgesang amerikanischer Consumer-Guides, die den Wikinger mit der Unzerstörbarkeit eines Sherman-Panzers verglichen.

Qualitäten, die durch die neuartigen Sicherheitstechniken des Kombis abgerundet wurden. Von Beginn an serienmäßig waren die Dreipunkt-,,Säkerheltsbelte", jenes lebensrettende Gurtsystem, das die anderen ebenso adaptierten wie die Befestigungspunkte für die Fondsitzgurte. Die sich bei Frontalkollisionen teilende Lenksäule gehörte ebenso zur Phalanx neuer Sicherheitsdetails wie unfallsichere Türen dank spezieller Türschlosssäulen und die Zweikreis-Bremsanlage mit Warnleuchte bei Fehlfunktion. Die Frontsitze mit verstellbarem Neigungswinkel von Sitzfläche und Lehne sowie einstellbarer Kreuzstütze standen in den 1960ern sogar für ein ganz neues Denken, waren doch bei manchen Mittelklassetypen vordere Sitzbänke noch Standardausstattung. Hinzu kam bei Volvo die damals vielleicht beste Rostschutzvorsorge mit Verzinkung im Warmbad und Korrosionsprävention aller Schweißpunkte. Während in Deutschland der durchschnittliche Pkw nach sechs bis sieben Jahren den Rosttod starb, hielt der Volvo Amazon doppelt so lange durch - manche der bis August 1969 insgesamt 73.220 gebauten P220 sogar bis heute. Wobei der Antrieb des Amazon im Alltag gut war für mehrere Millionen Meilen, wie ein Volvo 1800 S mit B18-Motor bewies, der sich einen entsprechenden Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde sicherte.

Auch im Polizeidienst vieler Länder leistete der ab 1967 mit innovativer Abgasreinigung gebaute Amazon Kombi zuverlässige Dienste, noch mehr im Licht der Öffentlichkeit standen jedoch die P220 der Promis und Celebrities. In diesem glamourösen Umfeld konnte der vielseitige Volvo zeigen, dass er vielleicht sogar die extravagante Alternative zur Limousine darstellte. Starregisseur Ingmar Bergman besetzte deshalb seinen privaten Amazon Kombi als automobilen Hauptdarsteller in seinen Kinoerfolgen, die dreifache Oscar-Preisträgerin Ingrid Bergman liebte die Fahrten mit ihrem ,,kleinen Volvo" und Björn Ulvaeus, Gründungsmitglied von Abba, nutzte seinen Amazon Kombi als Tourbus. Und dann gab es da noch die Power-P220, die das Kombi-Konzept im Motorsport einführten und Lorbeeren ernteten: 1968 dominierte ein P220 das erste in Schweden ausgetragene Dragrace als Publikumsliebling und diente als Vorbote späterer Renneinsätze von Volvo 740 und 850 Kombis. Im Jahr 2008 faszinierte ein furioser Amazon Kombi die Tuning-Fans: Ein Koenigsegg-Ingenieur transformierte den P220 via nachgeschärftem Volvo-V90-Motor zum 600-PS-Hypercar und lieferte so den Beleg, dass auch alte Amazonen gut für Sensationen sind.



Historie Volvo Amazon P 220 (Kombi):
1956: Im Februar kommuniziert Volvo die künftige Amazon-Baureihe. Am 3. August enthüllt Volvo den P120 Amason (Schreibweise ,,Amazon" mit ,,z" erst ab Ende des Jahres) im schwedischen Skövde bei einer Händlerveranstaltung, die Publikumspremiere erfolgt auf der Londoner Earls Court Motorshow im Oktober
1957: Im Februar beginnt die Auslieferung des Volvo P 120 Amazon
1958: Auf dem Genfer Salon debütiert der sportliche Amazon S. Volvo gründet eine Niederlassung in Deutschland. Zum Modelljahr 1959 werden ab August P120 Amazon und PV 544 als weltweit erste Automobile serienmäßig mit Dreipunkt-Sicherheitsgurten vorne und mit optionalen Zweipunktgurten hinten ausgestattet. Der Amazon Sport wird auch von der schwedischen Polizei bestellt
1961: Ab Oktober ist der Amazon auch als Zweitürer lieferbar, anfangs jedoch nur in Skandinavien. Zum neuen Modelljahr mit Motorengeneration B18 wie im Sportcoupé P 1800
1962: Am 17. Februar debütiert auf dem Autosalon Stockholm der Volvo Amazon P220 in Kombiform. Die Auslieferung beginnt als P221 (1,8-Liter-B18-Vierzylinder als Einfachvergaser mit 50 kW/68 PS Leistung) und P222 (Zweifachvergaser-Version mit 59 kW/80 PS)
1963: Am 11. September verlässt der erste in Nordamerika montierte Amazon das neue Werk Dartmouth/Nova Scotia
1964: Am 24. April eröffnet der schwedische König Gustav VI. Adolf das neue Volvo-Werk Torslanda in Hisingen bei Göteborg. Volvo benötigt dank des Amazon-Absatzerfolges Produktionskapazitäten von bis zu 200.000 Einheiten pro Jahr. Amazon-Modellpflege im August mit neuem Kühlergrill, modifiziertem Interieur und Ausstattung aller Versionen mit vorderen Scheibenbremsen
1965: In Belgien nimmt das Montagewerk Gent den Betrieb auf. Leichter Leistungszuwachs bei den Motoren durch höhere Verdichtung und modifizierte Nockenwelle. Der Volvo P120 Amazon erzielt mit 119.000 Einheiten sein bestes Verkaufsjahr. In Großbritannien, Peru und Chile wird der Kombi Amazon P220 auch als Polizeifahrzeug ausgeliefert, weitere Märkte folgen. Die neu eingerichtete nationale schwedische Fahrzeugüberwachung ermittelt, dass Volvo-Modelle mit einem Durchschnittsalter von 13,3 Jahren die höchste Lebenserwartung aller geprüften Typen erzielen
1966: Der ein-millionste Volvo, ein zweitüriger Amazon, rollt vom Band. Im August geht der Volvo 144 an den Start, der designierte Nachfolger des P120 Amazon. Facelift für alle Amazon, erkennbar an modifiziertem Grill und neuen Rückleuchten. Der Amazon P220 (Kombi) erhält in der Basisversion eine Leistungsspritze auf 55 kW/75 PS
1967: Die US-Exportversionen des Amazon mit Zweifach-Vergaser erhalten ein Abgasreinigungssystem. In Schweden belegt der Amazon mit 19.252 Einheiten Platz eins der Zulassungsstatistik (vor Volvo 142/144), allerdings wird im Dezember die Produktion des viertürigen Amazon eingestellt. In den USA verkauft Volvo 33.189 Einheiten, was einem Zuwachs von 32 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht
1968: Im August werden Amazon P220 (Kombi) und Zweitürer mit auf 2,0-Liter-Hubraum vergrößertem B20-Motor (Leistung im Amazon P220 nun 60 kW/82 PS bis 66 kW/90 PS) und Abgasreinigungssystem (wie in den USA) lieferbar. In Schweden wird am Wochenende des 11./12. August das erste Dragrace ausgetragen, dies auf dem auch für die Formel 1 genutzten Scandinavian Raceway in Anderstorp. Zum Publikumsfavoriten unter den V8-Fahrzeugen bei diesem Sprint-Rennen avanciert ein schwedischer Vierzylinder-Kombi, der Volvo Amazon P 220, der sich erstaunlich gut schlägt. Es ist das erste Motorsport-Event, bei dem ein Kombi Schlagzeilen macht. Für Volvo der Beginn einer neuen Ära, denn auf den Renneinsatz des Amazon P 220 folgen später Volvo 740 Kombi, 850 Kombi, im Jahr 2006 ein modifizierter Amazon P220, der den Titel ,,Sweden's hottest Volvo" gewann, und im Jahr 2008 folgte erneut ein Amazon P 220 (Kombi), diesmal aufgebaut von einem Koenigsegg-Ingenieur. Dank eines getunten S90-Motors leistet dieser Amazon 600 PS, fast das Niveau der Koenigsegg-Hypercars   
1969: Im August Produktionsauslauf für den Volvo Amazon (P220) Kombi, das 73.220. und letzte Exemplar wird im Werksmuseum verwahrt und später ausgestellt. Kopfstützen vorne und Sicherheitsgurte auf den Rücksitzen werden beim weiterhin angebotenen Zweitürer Standard
1970: Am 3. Juli 1970 läuft im schwedischen Werk Torslanda der letzte Volvo Amazon vom Band. In Südafrika läuft die Montage des 122 S bis November
2022: Die Kombiversion des Volvo Amazon wird im Februar 60 Jahre alt, ein Jubiläum, das Volvo und die Fans der Marke auf unterschiedliche Art feiern

Produktionszahlen:
Volvo Amazon insgesamt 667.323 Einheiten (1956-1970),
davon als Kombi:
Volvo Amazon P220 VA/HA (Modell 1962) 1.399 Einheiten;
Volvo Amazon P220 VB/HB (Modell 1962/63) 6.875 Einheiten;
Volvo Amazon P220 VD/HD (Modell 1963/64) 9.675 Einheiten;
Volvo Amazon P220 VE/HE (Modell 1964/65) 11.450 Einheiten;
Volvo Amazon P220 VF/HF (Modell 1965/66) 15.200 Einheiten;
Volvo Amazon P220 M (Modell 1966/67) 17.200 Einheiten;
Volvo Amazon P220 P (Modell 1967/68) 8.500 Einheiten;
Volvo Amazon P220 S (Modell 1968/69) 2.897 Einheiten.

Wichtige Motorisierungen:
Volvo Amazon P220 (Kombi, Produktionszeit 1962-1969)
mit B18-Motor, 1,8-Liter-Vierzylinder-Benziner (50 kW/68 PS bzw. 55 kW/75 PS bzw. 59 kW/80 PS bzw. 66 kW/90 PS bzw. 70 kW/95 PS),
bzw. mit B20-Motor, 2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (60 kW/82 PS bzw. 66 kW/90 PS).

Dieser Artikel aus der Kategorie NEWS wurde von Wolfram Nickel/SP-X am 03.01.2022, 13:09 Uhr veröffentlicht.