Ulf Böhringer/SP-X - 1. Oktober 2024, 14:57 Uhr NEWS
Fahrbericht: Harley-Davidson CVO Street Glide - Gleitendes Monument
Harley-Davidsons neue CVO Street Glide, stärker motorisiert denn je, beherrscht selbst die zügige Alpenpässe-Hatz, ohne ihre Nonchalance zu verlieren. Bemerkenswert ist auch der Preis. Â
Sie ist ein gewaltiges Motorrad, die neue Harley-Davidson CVO Street Glide, auch wenn sie gegenüber dem Vormodell um ein gutes Dutzend Kilogramm erschlankt sein mag. Gewaltig sind ihre Maße in Länge, Breite und Gewicht (380 Kilogramm), doch auch ihr Eindruck ist es: ein fahrendes, idealerweise gleitendes Monument des Technik-Verständnisses der Entwickler und Entscheider in Milwaukee. Aber die schwere, mit 86 kW/117 PS sowie 183 Nm Drehmoment auch allerbestens motorisierte Amerikanerin passt auch gut auf Europas Straßen, selbst auf winkelige Schweizer Alpenstrecken. Das zeigte ein umfänglicher Drei-Tages-Test über 750 Kilometer.
Vieles ist neu am 2024er Modell der CVO Street Glide: Die veredelte Karosserie mit den feinen LED-Streifen in der lenkerfesten Batwing-Verkleidung, das voluminöse 31-cm-TFT-Instrumentenbord im Cockpit, alle Schalter und Hebel und auch die Sitze, die Showa-Federelemente, hinreißend gestylte Räder und der noch größer gewordene V2-Motor. Der erhielt sogar besonders viel Zuwendung, wurde dem Milwaukee-Eight doch neben einem 50 ccm-Hubraumplus auf 1977 Kubikzentimeter (121 Kubik-Inch) auch erstmals in der Firmengeschichte eine variable Ventilsteuerung implantiert. Die beiden Maßnahmen zusammen befeuern den ultradicken V2 enorm, und das ist in jeder Fahrsituation spürbar: Er ist niedertourig noch besser fahrbar als zuvor und zündet bei mittleren und höheren Drehzahlen ein Feuerwerk. Die enorme Fahrzeugmasse stellt keinerlei Hindernis für dynamische Fortbewegung dar, sofern die Fuhre erst einmal ins Rollen gekommen ist.
Bis hierhin geht alles eigentlich ohne Probleme, weil die niedrige Sitzhöhe von lediglich 71,5 Zentimetern den Bodenkontakt leicht und sicher macht. Tricky ist’s andererseits aber doch; in Schrittgeschwindigkeit, insbesondere auf unrundem Geläuf, wünscht man sich unsichtbare stabilisierende Ausleger. Ärgerlich, ja unverständlich ist, dass die Motor Company auch heute noch keine Rückfahrhilfe anbietet, noch nicht einmal für ihr fast 47.000 Euro teures Flaggschiff. Auch die auf harte Kanten nicht gerade fein ansprechende USD-Gabel und die Federn am Heck könnten geschmeidiger agieren. Freilich müsste man dazu wohl auf semiaktiv arbeitende Fahrwerkskomponenten setzen. Stattdessen beschränkte man sich beim Neumodell auf hochwertigere, aber eben doch konventionelle Komponenten von Showa, was bei hinten lediglich 7,6 Zentimeter Federweg halt keine Wunder ermöglicht. Wir erwarten von einer Touring-Harley zwar keine Fliegender-Teppich-Eigenschaften à la GS, aber doch deutlich mehr Fahrkomfort, zumindest im teuren High-End-Modell CVO. Â
Auf wirklich hohem Niveau agiert beispielsweise die Dreischeiben-Bremsanlage; sie sorgt für kurze Bremswege, beste Stabilität und auch gute Verzögerung in Schräglage. Bezüglich moderner Fahrhilfen hat Harley seine frühere Technologie-Scheu zugunsten hoher Fahrsicherheit und Fahrfreude längst abgelegt – warum eigentlich nicht auch in Sachen Federung? Zudem erscheint ein radargestützter Tempomat überfällig, weil ja gerade die großen US-Tourer seit Jahren die Gleit-Weltmeister stellen und ihre Fahrer hektischen Überholmanövern zumeist negativ gesonnen sind. Technologisch hat die CVO Street Glide trotz zahlreicher Verbesserungen also immer noch Nachholbedarf, auch wenn sie nun Fahrmodi und Regelungs-Verknüpfungen für Motorbremse, Traktionskontroll-Eingriffe in Schräglage und vieles mehr bietet. Den endlich verstellbaren Bremshebel, die Lenkerverstellung und die dezent montierten Anschlüsse für beheizbare Bekleidung wollen wir keinesfalls vergessen.
Wie jede Harley vor ihr weist auch die neueste CVO Street Glide zwei Gesichter auf: Neben dem anhaltenden Hightech-Rückstand gegenüber Europas Besten kann sie eben auch in wichtigen Kriterien brillieren. Wo sonst genießen Fahrer und Beifahrer so viel Platz und Ausstattung, wo stehen Lady Sunshine feine Trittbretter und eine wirklich volumen- und klangstarke Audioanlage zur Verfügung, wo kann sie ihre Heizweste leicht einstöpseln, wo darf der Fahrer die Gänge mit einer Schaltwippe wechseln und wo wird ihm neben einem wunderbar komfortablen Sitz auch eine echt langstreckentaugliche Sitzposition geboten? Letzteres ist zwar nichts Neues, aber dennoch bemerkenswert. Neu ist, dass die Aerodynamik am Lenker der Street Glide weitaus besser ist und viele der früher zahlreichen Turbulenzen am Helm nicht mehr existent sind. Â
Das Aerodynamik-Plus korrespondiert bestens mit dem Leistungsplus des Triebwerks; man fährt gerne auch mal zügiger als dereinst, vor allen, wenn der Straßenbelag gut ist. Keineswegs übel ist die Schräglagenfreiheit (32 Grad): Selbst enge Serpentinen lassen sich deshalb ganz überwiegend im zweiten Gang absolvieren, wobei auch der wunderbare Durchzug des CVO-V2 bei ultraniedrigen Drehzahlen hilft. Das 80 km/h-Limit auf allen Schweizer Landstraßen wird im Sattel der durchzugsstarken, elastischen Harley bei weitem als nicht so nervig empfunden wie auf leichtgewichtigen Flink-Bikes. Â
So stemmt die CVO denn alles, was im Zuge der Erdgeschichte an Bikers Freudenspendern entstanden ist, mit Bravour: Furka- und Grimselpass, engste Nebenstraßen mit Säntisblick, schmale Ortsdurchfahrten in Appenzell oder auch das tiefe Eintauchen in das Zürcher Verkehrsgewühl. Â
Bleibt noch der Punkt Gepäckunterbringung zu erwähnen. Das voluminöse Topcase mit den zwei bestens positionierten Verschlüssen kann alles, was man erwarten darf. Weiterhin nicht ideal, weil ziemlich schmal und nicht rechtwinklig geformt, sind die fest montierten Seitenkoffer; ihr Volumen zu nutzen, ist nicht ganz einfach. Â
Steht noch das Fazit aus: Wer sich die 46.595 Euro für eine CVO Street Glide – immerhin gut 15.000 Euro mehr als für eine „profane“ Street Glide – leistet, muss offenbar kompromissfähig sein. Überzeugend ist die Top-Street-Glide in punkto Fernreiseeignung, Souveränität beim Fahren oder auch bei der klaren Formgebung sowie als Hingucker. Aber da sind eben auch der Federungskomfort und trotz des generellen Technologie-Plus’ so manche anhaltende Hightech-Fehlanzeige. Es wäre an der Zeit, diesbezüglich nachzulegen. Aber 2025 gibt‘s erst mal die Euro5+-Ausführung.
Technische Daten Harley-Davidson CVO Street Glide VVT 121
Motor: Luft- und flüssigkeitsgekühlter 45 Grad-V2-Motor, Typ Milwaukee-Eight VVT 121, 1977 ccm Hubraum, vier Ventile pro Zylinder, ohv, 87 kW/117 PS bei 5020 U/min., 183 Nm bei 3.500 U/min; Einspritzung, 6 Gänge, Zahnriemen
Fahrwerk: Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen; USD-Telegabel ø 4,7 cm vorne, 11,7 cm Federweg; Stahl-Zweiarmschwinge hinten, zwei Federbeine (Vorspannung teils hydraulisch einstellbar), 7,6 cm Federweg; Aluminiumgussräder mit Drahtspeichen; Reifen 130/60 B 19 (vorne) und 180/55 B 18 (hinten). 32 cm Doppelscheibenbremse vorne, 30 cm Einscheibenbremse hinten
Assistenzsysteme: Zweikreis-ABS, drei Fahrmodi, Motor-Schleppmoment-Regelung, Antischlupfregelung, elektron. Bremskraftverteilung (alle Systeme kurvenoptimiert), Berganfahrhilfe, aut. Blinkerrückstellung, Tempomat, Keyless Ride, Navigation und komplette Konnektivität
Maße und Gewichte: Radstand 1,625 m, Sitzhöhe 71,5 cm, Gewicht fahrfertig 380 kg, Zuladung 237 kg; Tankinhalt 22,7 Liter Â
Fahrleistungen: 0-100 km/h ca. 5 s, Höchstgeschwindigkeit 180 km/h (abgeregelt). Normverbrauch lt. WMTC-Norm (EU 5) 6,0 l/100 km
Wartung und Garantie: Service nach 1600 km, danach alle 8000 km; Garantie zwei Jahre ohne Kilometerbegrenzung
Preis: ab 46.595 EuroÂ
Dieser Artikel aus der Kategorie NEWS wurde von Ulf Böhringer/SP-X am 01.10.2024, 14:57 Uhr veröffentlicht.