MOTOR-EXCLUSIVE

Die mid-Zeitreise: Dnepr-Gespann aus Russland: Motorrad für ganze Männer
mid Groß-Gerau - Der Dnepr-Pilot sollte es nicht eilig haben. Erst nach gehörigem Anlauf durchbricht der Dritteltonner die 100 km/h-Marke. 105 km/h sind mit dem Gespann erreichbar, rund 110 km/h mit der Solomaschine. Archiv Motor-Informations-Dienst (mid)
MOTORRAD
Motor-Informations- Dienst (mid) - 4. Juni 2021, 21:09 Uhr MOTORRAD

Die mid-Zeitreise: Dnepr-Gespann aus Russland: Motorrad für ganze Männer

Am 21. August 1995 berichtete der Motor-Informations-Dienst (mid) im 40. Jahrgang über das Dnepr-Gespann aus Russland.


Am 21. August 1995 berichtete der Motor-Informations-Dienst (mid) im 40. Jahrgang über das Dnepr-Gespann aus Russland.

"Fluten, fluten und nochmals fluten" lautet der Kommentar von Friedrich Hoerkens, potenzieller Käufer, während er Startvorbereitungen für sein "nagelneues", fast sieben Zentner schweres Dnepr-Gespann trifft. Die beiden mit einem Messingschieber ausgerüsteten Mofa-Vergaser werden bis zum Rand unter Sprit gesetzt. Wenige Tritte auf den Kickstarter genügen, um den 24 kW/32 PS starken Boxermotor mit 650 ccm Hubraum zum Leben zu erwecken. Der Klang ist etwas rauher als der einer BMW, aber durchaus angenehm. 325 Kilogramm russischer Stahl - und etwas Gummi und Aluminium - setzen sich in Bewegung. Beim Rangieren des knapp zweieinhalb Meter langen und 1,70 Meter breiten Ungetüms ist der Rückwärtsgang - nebst vier Vorwärtsgängen - sehr hilfreich. Der Antriebsstrang ist geradezu üppig mit Getrieben ausgestattet: Motorgetriebe, Hinterraddifferenzial und Seitenwagengetriebe.

Die Technik der aus Russland importierten Maschine geht auf die ab 1939 gebaute Wehrmachts-BMW R 71 zurück. Die Legende sagt, damals seien wenige exportierte BMW-Exemplare detailgetreu abgekupfert worden. Das Dnepr-Gespann kostet heute etwa 3.500 DM zuzüglich der Überführungskosten. Wer einen Tausendmarkschein drauflegt, erhält die "De Luxe-Ausführung Export". Das klingt nach Schnäppchenpreisen. Wenn da nicht ein paar Kleinigkeiten wären, die den technisch versierten, ganzen Mann erfordern. Der Mönchengladbacher Händler Dnepr Motorcycles lehnt aus diesem Grund auch schon mal einen Kunden ab, wenn er den Eindruck hat, dass ihm die richtige Einstellung fehlt. "Richtig" soll heißen: Geduld und technischer Verstand.

Kunde Hoerkens, 62 Jahre alt, erfahren und Kfz-Mechaniker, verkündet stolz: "Ich habe das Ding selbst zum Laufen gebracht". Denn der "nagelneue" russische Originalzustand ist recht unbefriedigend. Vor dem Verkauf wird das Gespann vom Händler - oder im Einzelfall vom versierten Kunden - zerlegt und generalüberholt. Dazu gehört auch das Entgraten des Kickstarters in guter deutscher Handarbeit. Nach 2.000 Kilometern vorsichtigen Einfahrens und mehrfachem Ölwechsel wird der Motor durch Herausbrechen eines Vergaserteils entdrosselt. Viel Liebe und Toleranz muss man zudem noch mitbringen: Zum einen für die Lackierung, die feinkörnigem Sandpapier gleicht, zum anderen für das sibirische Kantholz, auf dem die Füße des Beiwagen-Beifahrers ruhen. Auch die handgeschweißten Stahlfelgen und die vier Schraubenschlüssel, mit denen sich der Oldtimer zur Not auch in der Taiga zerlegen lässt, sind gewöhnungsbedürftig.

Wer zwischen Getriebe und Kardanwelle nach einem modernen Kreuzgelenk sucht, stößt auf eine simple Hartgummischeibe - Hardy-Scheibe genannt - in die beidseitig zwei einfache Stahlklauen greifen. Trost spendet dagegen die Ersatzteilpreisliste. Ein Blinker kostet nostalgische 10 DM, eine Kardanwelle weniger als 30 DM. Alle drei Räder nebst Ersatzrad sind untereinander austauschbar. Das Gleiche gilt für die riesigen Trommelbremsen.

Der Dnepr-Pilot sollte es nicht eilig haben. Erst nach gehörigem Anlauf durchbricht der Dritteltonner die 100 km/h-Marke. 105 km/h sind mit dem Gespann erreichbar, rund 110 km/h mit der Solomaschine. Gesamteindruck: Die russische Marke ist vor dem Boom durch Handybewaffnete Yuppies einigermaßen sicher. Während amerikanische Motorräder durch den anhaltenden Trend nur noch wenig Zuwachs an persönlichem Profil garantieren, bietet "der Bär aus Russland" mehr Exklusivität als mancher Biker verkraften kann.

Dieser Artikel aus der Kategorie MOTORRAD wurde von Motor-Informations- Dienst (mid) am 04.06.2021, 21:09 Uhr veröffentlicht.