MOTOR-EXCLUSIVE

Wolfram Nickel/SP-X - 12. Januar 2015, 13:02 Uhr NEWS

Tradition: 50 Jahre Audi-Nachkriegsmodelle (Baureihe F 103, Typen 60 bis Super 90) - Mit Mitteldruck

Wie Butter das Brot wertete er nach Meinung der Medien und seiner vielen Fans die Mittelklasse auf. Tatsächlich brachte der erste Audi der Nachkriegszeit mit Mercedes-Motor und feiner Verarbeitung einen Hauch Premium in die bürgerliche Klasse. Vor allem aber bewahrte er Ingolstadt vor dem Untergang, denn die bis dahin gebauten Zweitakter wollte niemand mehr haben.

Längst sind sie erbitterte Kontrahenten beim Kampf um die Krone der Premiumklasse. Kaum ein Käufer der Marken mit dem Stern und den vier Ringen erinnert sich aber noch, dass es einst Mercedes-Kraft war, die Audi in die Mittelklasse katapultierte. Tatsächlich war Audi vor 50 Jahren so stolz auf den Stuttgarter Viertakt-Vierzylinder in seinen Fonttrieblern der Typenfamilie 60 bis Super 90, dass die Ingolstädter in ganzseitigen Anzeigen verkündeten: ,,Der Audi hat einen Mitteldruckmotor wie kein anderes Automobil. Ungewöhnlich, weil er höher verdichtet ist als alle anderen vergleichbaren Viertaktmotoren. Und ungewöhnlich auch seiner Eltern wegen. Entwickelt hat ihn Mercedes-Benz. Die Auto Union baut ihn."

Sensationell war aber eigentlich weniger die Herkunft des Motors, als vielmehr seine Fähigkeit, einen vormaligen Flop zum Topseller zu transformieren. Basierte der erste Audi der Nachkriegsära doch auf der letzten DKW-Limousine mit Zweitaktmotor, dem 1963 vorgestellten Typ F 102. Mit diesem von der Zeit überholten Zweitakter schien die Auto Union damals ihrem Untergang entgegen zu rasen, nicht einmal massive Preissenkungen konnten den Absturz der Verkaufszahlen bremsen. Rasches Handeln war also angesagt, als der Volkswagen-Konzern 1965 die Federführung bei der Auto Union AG übernahm, die zuvor sechs Jahre lang ein Tochterunternehmen von Mercedes-Benz gewesen war. Der vollkommen neue, von Mercedes konstruierte Viertakt-Vierzylinder stand für den Einsatz im DKW F 102 schon bereit, Volkswagen änderte noch den Namen in Audi (vorläufig ohne Typenziffer) und fertig war ein Auto, das nach und nach den Ruf eines Volks-Mercedes gewann. Als die Audi 60 bis Super 90 im Jahr 1972 ihrem Nachfolger Platz machten, waren immerhin fast 420.000 Einheiten von den Bändern gerollt - und Audi zählte zu den Messlatten in der Mittelklasse.

Die Industrie rief das Jahr 1965 zum wirtschaftlichen ,,Boom-Jahr" aus und tatsächlich schien das Nachkriegs-Wirtschaftswunder einen endgültigen Höhepunkt zu erreichen mit einer Ausweitung der industriellen Fertigungskapazitäten. Nur die Auto Union AG stürzte mit ihrer DKW-Zweitakt-Flotte in ein tiefes Tal, aus dem ein Entrinnen kaum mehr möglich schien. Selbst von ihrem jüngsten Modell, dem DKW F 102, verkauften die Ingolstädter in drei Monaten gerade einmal die Stückzahlen, die Volkswagen an einem einzigen Arbeitstag auslieferte. Überkapazitäten in Ingolstadt, zu wenig Produktionskapazität in Wolfsburg, das war zwar nicht der eigentliche Grund, weshalb Volkswagen die Auto Union AG zum 1. Januar 1965 übernahm. Aber immerhin: Unter der Ägide des neuen von VW entsandten Auto-Union-Hauptgeschäftsführers Rudolf Leiding (als VW-Boss brachte er später den Golf auf die Bahn) sorgte nun eine Käfer-Produktion für Profitabilität im Werk Ingolstadt. Schlecht sah es dafür mit der Arbeitsmoral aus, hier fegte Leiding mit Orkangewalt jeglichen Schlendrian aus den Werkshallen. Nicht nur, dass der DKW F 102 in Rekordzeit zum ersten neuen Audi seit 1939 weiterentwickelt wurde, der Audi-Chef führte auch Qualitätsprinzipien ein, die an japanische Unternehmen erinnerten. Und die den neuen Audi (interner Code F 103) zum Qualitätsmaßstab in der bürgerlichen Mittelklasse machten, wie die Fachpresse alsbald bestätigte.

Daran änderten auch Korrosionsprobleme nichts, die so manchen Fahrer der F-103-Typenfamilie bereits nach zwei Jahren mit durchrosteten Kotflügeln konfrontierten. Plagten solche Schwierigkeiten damals doch fast alle Fabrikate, die meisten sogar weit mehr als Audi. Zudem konnte Leiding die Audi-Werker motivieren, Enthusiasmus für ihre Arbeit zu entfalten. Dazu zählten damals bereits Tugenden wie Pünktlichkeit (am Tag von Leidings Amtsantritt erschienen rund 300 Mitarbeiter mit Verspätung am Arbeitsplatz, zwei Tage danach waren alle pünktlich), der Verzicht auf Freizeitaktivitäten am Fließband wie ausdauernde Zeitungslektüre und die Begeisterung für Fortbildungen im Werk Wolfsburg.

Qualitätsmaßnahmen, die auch finanziell fruchteten. Nach nur einem Jahr konnten die Fertigungszeiten des Audi um ein Drittel reduziert werden. Zwei Jahre später - inzwischen gab es neben dem ersten, 53 kW/72 PS leistenden Audi ohne Typenziffer auch die Versionen Audi 80 und Super 90 - erwirtschafteten die Ingolstädter wieder einen Gewinn. Ab 1968 mussten in Ingolstadt sogar Sonderschichten gefahren werden, so erfolgreich war der in diesem Jahr eingeführte Basistyp Audi 60.

Fast war es ein Wunder: Der DKW F 102 war mit seinem Zweitaktmotor und Kinderkrankheiten in eine Sackgasse gefahren und die Audi-Typen 60 bis Super 90 fanden den Ausgang. Zwar mit modernem Viertaktmotor, aber im gleichen Karosseriekleid, das sich vor allem durch eine anderes Frontdesign differenzierte. Den Rest erledigte eine kuriose Marketingkampagne. Mit dem nur für Lateiner verständlichen, fast schon irren Slogan ,,Compressorius medii ordinis motor quaternis ictibus vehiculum propellit" wies Audi auf den Antrieb durch Viertakt-Mitteldruckmotor in den Stufenhecklimousinen und Kombis hin. Eigentlich aber ging es Audi darum, sich öffentlich ins Gespräch zu bringen.

Bundesweit verschickte Werbebriefe erledigten den Rest: Die ganze Republik sprach über den neuen Herausforderer von Opel Rekord, Ford 17 M und VW 1600, der in Testberichten hoch gelobt wurde. Zudem vermittelte er mit seinem sparsamen, weil hochverdichteten Mitteldruckmotor kurzzeitig den Eindruck von Avantgarde, vergleichbar dem gleichfalls neuen, jedoch trinkfreudigen Wankelmotor. Der Frontantrieb war zwar bereits aus DKW-Tagen bekannt, präsentierte den 4,38 Meter langen Audi nun aber theoretisch sogar als Alternative zu den futuristisch wirkenden Franzosen Renault 16 und Citroen ID/DS. Auch wenn in Deutschland kaum ein frankophiler Käufer ernsthaft über den Erwerb des Bayern nachgedacht haben wird, konnte es der Audi in seiner schärfsten Ausführung als Super 90 ab 1966 sogar mit Sportlimousinen aufnehmen. Super 90, so hieß bereits eine legendäre Version des Porsche 356 und wie zuvor der Zuffenhausener zeigte nun der 66 kW/90 PS starke Audi dem Wettbewerb den Auspuff.

Gleich ob Glas 1700, BMW 1800 oder der hubraumstärkere Mercedes-Benz 200, mit 163 km/h Spitze fuhr der Audi Super 90 vorweg. Noch auf der IAA 1967 ließ es sich Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller nicht nehmen, den chromgeschmückten Tempoprimus durch einen Ortstermin ebenso zu würdigen wie die als Weltwunder bezeichnete erste Wankellimousine NSU Ro 80. Die meisten Audi-Käufer entschieden sich zwar ab 1968 für den neuen Basistyp Audi 60 mit bescheidenen 40 kW/55 PS, aber der Super 90 vermochte es, die Ingolstädter zum Sprung über den Atlantik zu inspirieren. Vor allem junge Amerikaner und VW-Aufsteiger waren begeistert, zumal es den Super 90 exklusiv für die USA auch als Variant gab. Hierzulande erhielt der Super 90 ab 1969 hauseigene Konkurrenz: Das neu eingeführte Flaggschiff Audi 100 nutzte zunächst die Motoren der F-103-Baureihe und war kaum kostspieliger.

Dennoch setzte die Typenfamilie aus Audi 60 bis Super 90 noch im letzten kompletten Modelljahr neue Bestwerte bei den Verkaufszahlen. Da drehten die Prototypen des 1972 startenden Nachfolgers Audi 80 bereits ihre finalen Testrunden.
Chronik:
1959: Die Ingolstädter Auto Union wird 100prozentige Tochtergesellschaft der Daimler-Benz AG, die im Vorjahr bereits 88 Prozent der Geschäftsanteile übernommen hat
1962: Das Prinzip der Zweitaktmotoren verliert an Popularität und die DKW Verkaufszahlen sind kontinuierlich rückläufig. Der DKW-Anteil an den deutschen Gesamtzulassungen lag 1961 bei 7,2 Prozent, im Jahr 1964 nur noch noch bei 3,7 Prozent. Daimler-Benz entsendet daraufhin den Ingenieur Ludwig Kraus als technischen Direktor nach Ingolstadt. Kraus wird beauftragt, einen ursprünglich für Daimler-Benz-Fahrzeuge konzipierten Viertaktmotor für den Einsatz im neuen DKW-Flaggschiff F 102 anzupassen
1963: Im September feiert der DKW F 102 Weltpremiere auf der Frankfurter IAA, aber noch mit Zweitaktmotor
1964: Im März erfolgt der Großserienstart des Zweitakters DKW F 102. Ab Oktober mit Chromzierleisten in der seitlichen Sicke und auf den Regenrinnen
1965: Im April debütiert der DKW F 102 auch als viertürige Limousine. Dennoch werden ab August des Jahres weniger als 1.000 Neuzulassungen pro Monat erzielt. Zur Frankfurter IAA wird der Auto Union Audi vorgestellt, zunächst nur unter der Modellbezeichnung ,,Audi". Volkswagen-Konzern-Chef Heinrich Nordhoff stellt Bundespräsident Heinrich Lübke den ersten Audi der Nachkriegsära am Frankfurter Messestand vor. Bei diesem ,,Audi" mit sogenanntem Mitteldruckmotor und Viertaktprinzip von Daimler-Benz handelt es sich um eine Evolution des DKW F 102, die intern F 103 genannt wird. Seit diesem Jahr gehört das Ingolstädter Unternehmen zum Volkswagen-Konzern. Die Produktionskapazitäten in Ingolstadt sollen für die Fertigung des VW Käfer genutzt werden. Dennoch entwickelt Ludwig Kraus im Geheimen auch ein neues Audi-Modell, den Typ 100. Zum ersten großen wirtschaftlichen Erfolgsträger wird jedoch die Baureihe Audi 60 bis Super 90, die aus dem Auto Union Audi respektive DKW F 102 hervorgegangen ist
1966: Auf dem Genfer Salon werden DKW F 102 und ,,Audi" Anfang März noch parallel präsentiert. Am 24. März läuft in Ingolstadt die letzte Zweitakt-Limousine vom Band, ein viertüriger F 102. Im Mai präsentiert Audi die Kombiversion ,,Audi Variant" als technisch anspruchsvolle Frontantriebs- Alternative zu VW Variant, Opel Rekord Caravan und Ford 17 M Turnier. Im September 1966 ergänzt der Audi 80 das Portfolio, ursprünglich sollte er den Audi (72) ersetzen, der preiswertere Audi (72)  bleibt dann aber doch im Programm als Einstiegsmodell. Der Audi (72) Variant wird jedoch im Modelljahr 1967 durch den Audi 80 Variant abgelöst. Neues Flaggschiff wird Ende 1966 der Audi Super 90, den auch die damalige TV-Prominenz wie Heinz Schenk (,,Blauer Bock") und Hans Sachs (,,Wer bin ich?") als Privatauto kauft
1967: Auf der Frankfurter IAA zählt der Audi Super 90 trotz spektakulärer Neuheiten wie NSU Ro 80 zu den Publikumsmagneten, weshalb auch Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller dieses Fahrzeug durch einen Ortstermin besonders würdigt. Wie bereits der Super 90 erhält auch der Audi 80 serienmäßig ein Zweikreis-Bremssystem. Nur der Basistyp muss sich weiter mit einem Einkreis-System begnügen. Optional gibt es einen Bremskraftverstärker für 85 Mark. Eine niedrigere Verdichtung erlaubt ab Spätsommer die Verwendung preiswerteren Normalbenzins beim 72-PS-Audi, den es nun überdies auch in einer ,,L"-Version mit Luxusattributen gibt
1968: Im Februar Einführung des Audi 60 mit 55 PS aus einem 1,5-Liter-Motor als neues Basismodell, um Käfer-Aufsteiger zu gewinnen. Im Mai gefeierte Übergabe von viertürigen Audi-Limousinen an den Förderverein der Olympischen Spiele 1972 in München. Im August Start der Version Audi 60 L mit Schweller-Zierleisten, Zweikreis-Bremssystem, Holzfolien-Armaturentafel, Zeituhr, plüschigem Teppich etc. Im Dezember Einstellung des Audi (72) Urtyps und des Audi 80. Im gleichen Monat wird als Nachfolger der Audi 75 eingeführt. Außerdem Auslieferung des Audi 60 Variant. Insgesamt wurden 1968 67.474 Audi ausgeliefert - gegenüber knapp 30.000 Einheiten im Vorjahr, das noch durch die Rezession belastet war
1969. Entwicklungsstart für den Nachfolger der Typenfamilie Audi 60 bis Audi Super 90. ,,60Jahre Audi" wird in Ingolstadt mit einer Jubiläumsrallye gefeiert und zweitürigen Limousinen der ersten Nachkriegs-Audi. Über das Volkswagen-Händlernetz startet der Audi-Vertrieb in den USA, zunächst mit dem Spitzenmodell Audi Super 90. Exklusiv für die USA gibt es auch den Audi Super 90 Variant. Markteinführung des bereits im Vorjahr enthüllten Audi 100 als neuem Flaggschiff der Marke im Zeichen der Ringe. Modellpflegeprogramm für die Audi 60, 75 und Super 90, u.a. gibt es nun alternativ zur Lenkradschaltung auch eine Knüppelschaltung
1970: Im Herbst zum Modelljahr 1971 Modellpflege mit neuer Armaturentafel im Stil des Audi 100, überarbeitetem Heckdesign mit größeren Rückleuchten, Tankklappe an Kotflügel statt Tankstutzen am Heck etc.
1971: Im Dezember wird ein Audi 80 mit Schrägheck und VW-Logo präsentiert als Prototyp für den Volkswagen Passat. Für die F-103-Generation der Audi 60 bis Super 90 war es mit über 75.000 Verkäufen das beste Modelljahr aller Zeiten. Allerdings kam der Super 90 allmählich zum Ende seiner Karriere, der größere Audi 100 machte ihm mit vergleichbaren Preisen zu heftige Konkurrenz
1972: Im Juli Vorstellung des Audi 80 als zwei- und viertürige Limousine. Neu entwickelte Motorenreihe mit obenliegender Nockenwelle, die auch in anderen Modellen des VW-Konzerns eingesetzt wird. Von der Audi-Baureihe F 103 wurden bis Juli noch beachtliche 41.000 Einheiten gefertigt
 
Wichtige Motorisierungen:
Audi (72) mit 1,7-Liter-(53 kW/72 PS)-Vierzylinder-Benziner (Jahre 1965-1968)
Audi 60 mit 1,5-Liter-(40 kW/55 PS; auf Exportmärkten auch mit 48 kW/65 PS)-Vierzylinder-Benziner (Jahre 1968-1972)
Audi 75 mit 1,7-Liter-(55 kW/75 PS)-Vierzylinder-Benziner (Jahre 1968-1972) 
Audi 80 mit 1,7-Liter-(59 kW/80 PS)-Vierzylinder-Benziner (Jahre 1966-1968)
Audi Super 90 mit 1,8-Liter-(66 kW/90 PS)-Vierzylinder-Benziner (Jahre 1966-1971/72)
 
Produktionszahlen:
Insgesamt 53.036 Einheiten des DKW F 102, davon 46.337 DKW F 102 Zweitürer, 6.699 DKW F 102 Viertürer.
Insgesamt 416.853 Einheiten der Typen Audi 72, Audi 60 bis Super 90 in den Jahren 1965 bis 1972, davon 27.492 Audi Variant und 216.988 Einheiten des Audi 60 (populärste Typenspezifikation) sowie 49.794 Audi Super 90
Zum Vergleich: Insgesamt 1.103.776 Audi 80 (1972-1978), davon 932.403 Einheiten in Europa-Spezifikation und 171.373 Audi Fox für den US-Markt

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